Muzzumil Ruheel
Love Letters, 2016
Acrylfarben und Tinte auf Leinwand
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, fanden auf dem indischen Subkontinent groß angelegte Kampagnen statt, um Männer zu gewinnen, die unter dem Union Jack in den Krieg ziehen würden. Teil dieser Kampagnen waren auch Lieder mit so berühmten Zeilen wie: „Die Rekruten stehen auf der Türschwelle; hier esst ihr trockenes Roti (Brot), dort werdet ihr Obst essen; hier seid ihr mit Fetzen bekleidet, dort werdet ihr Anzüge tragen.“
Zigtausende junge Männer wurden von diesen Versprechen gelockt, doch erlebten in Europa nur Tod und Verlust. Die Briefe an ihre zuhausegebliebenen Lieben wurden oft stark zensiert, so dass niemand erfahren konnte, wie schlimm der Kriegsalltag in Wirklichkeit war.
Love Letters handelt von einem jungen Mädchen, das in einem kleinen Dorf im Punjab lebt. Ihr Geliebter befindet sich im Krieg. Eines Tages erhält sie einen Brief von ihm. Sie ist zugleich hoch erfreut, den Brief zu bekommen – weil dies bedeutet, dass er noch am Leben ist – und zutiefst von Angst erfüllt, denn der Text ist stark zensiert, übrig sind nur noch unzusammenhängende Wörter. Sie antwortet mit der Hilfe eines Dorfschreibers, eine damals üblichen Praxis, da viele Menschen nicht schreiben konnten. Als der Brief beinahe fertig ist, fällt ihr ein, dass sie nicht weiß, wohin sie ihn schicken soll. Also nimmt sie den Brief und bewahrt ihn nahe ihres Herzens auf.
Das Mädchen ist hilflos, wie so viele Millionen Mütter, Töchter und Ehefrauen damals. In Muzzumil Ruheels Arbeit wird das Mädchen von der Figur Jugni verkörpert, einer im Punjab beliebten mythologischen Figur aus der Volksliedtradition: Jugni ist eine Frau, die gern Geschichten erzählt – wahre Geschichten, die sich sonst niemand auszusprechen getraut oder mit denen niemand in Verbindung gebracht werden möchte.
Bei Muzzumil Ruheel ist Jugni dieses Mädchen, das sich um ihren Liebsten sorgt. Sie möchte so viel sagen, so viel hören, aber der Brief enthält nichts, das sie beruhigen könnte und es gibt niemanden, der ihre Trauer vernimmt.

Muzzumil Ruheel, Love Letters (installation view), 2016. Foto / photo: Christoph Assmann

Muzzumil Ruheel, Love Letters (detail), 2016

Muzzumil Ruheel, Love Letters (detail), 2016. Foto / photo: Christoph Assmann

Muzzumil Ruheel, Love Letters (detail), 2016. Foto / photo: Christoph Assmann
Muzzumil Ruheel (*1985, lebt und arbeitet in Karatschi, Pakistan) schloss sein Studium der Bildenden Kunst 2009 an der Beaconhouse National University, Lahore ab. In seiner Arbeit bedient er sich metaphorischer Deutungen und untersucht anhand von dokumentierten Erzählungen die Wahrnehmung sozialer und alltäglicher Ereignisse, mehrdeutige Darstellungen und fragwürdige Wahrheiten, die unsere Geschichte und Geschichten hervorgebracht haben. Muzzumil Ruheels Arbeiten waren in nationalen und internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, darunter zuletzt in der Canvas Gallery, Karatschi (2016); in der Rohtas Gallery, Lahore (2015) und im Kaladham, JSW Foundation, Vijayanagar (2014).