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Das Halbmondlager
Am sogenannten Halbmondlager – ein Kriegsgefangenenlager für Soldaten aus den Kolonien der Franzosen und Briten – werden die Verflechtung von Politik, Kolonialismus, Wissenschaft und Medien deutlich, aber auch die Konstruiertheit von Geschichte und die etwaigen Leerstellen darin. In
digging deep, crossing far bildet dieses Lager den Ausgangspunkt für eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, Indien, Pakistan und darüber hinaus.
Mehr als 16.000 koloniale Soldaten der französischen und britischen Armeen sowie vor allem muslimische Kriegsgefangene aus der russischen Armee, waren zwischen 1914 und 1918 in zwei Lagern in Zossen-Wünsdorf, südlich von Berlin, interniert, das bekanntere davon das Halbmondlager.
Die Deutschen und deren osmanische Verbündete beabsichtigten mittels der von der Nachrichtenstelle für den Orient entwickelten Dschihad-Strategie die dort internierten Kriegsgefangenen zum Überlaufen zu bewegen. Der deutsche Staat präsentierte sich gegenüber den Gefangenen – aber auch der Bevölkerung gegenüber – als Freund des Islams.
Die Ausübung religiöser Praktiken wurde in dem Lager ermöglicht. Auch wurden mehrere Lager-Zeitungen veröffentlicht, zum Beispiel El-Dschihad in drei verschiedenen Sprachen. Deutsche Bürger waren eingeladen, sich die Gefangenen anzusehen – ähnlich wie bei damaligen ‚Völkerschauen‘ – und es gab Postkarten mit Bildern von der Moschee und Gefangenen. Im Hinblick auf die Gefangenen Hindus und Sikhs nahm die Propaganda nationalistischere Züge an, zum Beispiel mittels der Zeitung Hindostan und der Zusammenarbeit mit dem Indischen Unabhängigkeitskomitee in Berlin.
Mit der Zeit wurde offensichtlich, dass der Aufwand, die Kriegsgefangenen zum Desertieren zu bewegen, den Nutzen bei Weitem überstieg. Die Propaganda bewirkte keine sehr hohe Zahl von Überläufern und die Lager wurden zunehmend für ‚wissenschaftliche Zwecke‘ geöffnet. Anthropologische und an ‚Rasse‘ orientierte, ethnologische und linguistische Studien wurden an den Gefangenen durchgeführt. Auch Künstler und Filmemacher machten sie sich für orientalistische Porträts oder als Statisten zu Nutze.
Die Moschee
Die erste Moschee, die je in Deutschland errichtet wurde, entstand im Rahmen des sogenannten Dschihad-Programms für muslimische Gefangene im Halbmondlager. Die Moschee wurde für religiöse Zwecke verwendet, war aber mit 240 m² deutlich zu klein für alle muslimischen Gefangenen des Lagers. Auf Fotografien von religiösen Festen im Halbmondlager sind die meisten Gefangenen daher beim Beten vor der Moschee zu sehen, während die Moschee selbst vor allem als Hintergrundkulisse fungiert: ein ansehnliches, zu einer solchen Szene passendes Motiv.
Diese Bilder verdeutlichen die Rolle der Moschee für die deutsche Kriegspropaganda: Sie war ein beliebtes Motiv, da sie die Vorstellung einer deutsch-muslimischen Freundschaft transportierte. Auf Postkarten gedruckt, zirkulierte das Bild mit großer Reichweite.
Die Moschee war aus Holz gebaut und wurde zu Beginn des Ramadan im Juli 1915 eingeweiht. Im Jahr 1930 wurde sie wieder abgerissen.
Der Kriegsgefangenenfriedhof
Der ‚indische Friedhof‘ (Ehrenfriedhof Zehrensdorf) im Wald nahe Wünsdorf ist für verschiedene Konfessionen vorgesehen. Man findet hier 206 Grabsteine von indischen Soldaten und Seeleuten, die als Kriegsgefangene in deutschen Lagern starben. Offiziellen Berichten zufolge wurden hier zu Kriegszeiten auch 412 russische Soldaten (überwiegend muslimische Tataren), 262 nord- und westafrikanische Soldaten, 86 französische Soldaten, zwei belgische Soldaten, ein englischer und ein türkischer Soldat bestattet. Ihre sterblichen Überreste wurden nach dem Krieg vermutlich überführt; heute verbleiben lediglich zwei Gedenksteine für diese gefallenen Soldaten.
Der Friedhof war lange Zeit nicht zugänglich, da er in einem Gebiet lag, das zu DDR-Zeiten von der sowjetischen Armee benutzt wurde. Nach drei Jahren intensiver Restaurierung durch die Kriegsgräberkommission der Commonwealth-Staaten wurde der Friedhof 2005 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bis heute werden die Gräber der indischen Verstorbenen von der Kriegsgräberkommission instand gehalten.
Lautarchiv: Die Stimmen der Kriegsgefangenen
Die Stimm- und Musikaufnahmen aus beiden Kriegsgefangenenlagern werden im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin und im Phonogrammarchiv des Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem aufbewahrt. Das Lautarchiv umfasst circa 1.650 Tonaufnahmen aus Lagern des Ersten Weltkriegs, darunter 193 Aufnahmen mit 282 Titeln, die auf im Halbmondlager festgehaltene Kriegsgefangene aus Südasien zurückgehen.
Mit dem Ziel, so viele Sprachen wie möglich aufzunehmen, hatte der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen 1915 die Phonographische Kommission gegründet. Mitglieder der Kommission reisten zu Kriegsgefangenenlagern in ganz Deutschland, darunter auch die Lager in Zossen-Wünsdorf, wo sich einige der ‚exotischsten‘ Gefangenen befanden.
Ausgrabung in Moschee und Kriegsgefangenenlager von 1915
Text: R. Bernbeck / T. Dressler / M. Gussone / Th. Kersting / S. Pollock / U. Wiegmann
Das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum plante gemeinsam mit der FU Berlin eine Lehr- und Forschungsgrabung auf dem Areal der Moschee im Halbmondlager am Militärstandort Zossen, zu deren 100jährigem Baubeginn.
Unabhängig davon plante das Land Brandenburg die Einrichtung eines Erstaufnahmelagers für Asylsuchende auf einer Landesliegenschaft, die sich schon über 100 Jahre in öffentlicher Hand befindet.
Groß war das Erstaunen, als sich bei der Grabungsvorbereitung herausstellte, dass es sich um dieselbe Fläche handelt. Insofern war nun wegen der umfangreichen Bauplanungen im Bodendenkmal Kriegsgefangenenlager und Moschee der Neuzeit zusätzlich eine baubegleitende Dokumentation durch eine Fachfirma fällig.
Trotz widriger Umstände, konnten durch die intensive Kooperation von Universität, Dienstleister und Fachamt die schütteren Reste der Leichtbau-Holzkonstruktion der Moschee identifiziert und lokalisiert werden. Aufgrund zweier Abbruch- und Neubauphasen in NS- und Sowjetzeit war der Standort der Moschee in Mitleidenschaft gezogen worden, 1930 wurde sie planmäßig und gründlich abgetragen, um die wiederverwendbaren Teile (vor allem wohl die Hölzer, Ziegelfundamente und -bodenbeläge) anderweitig zu nutzen.
Eiserne Bolzen und Drahtverspannung der Kuppel, Fragmente der bunten Glasfenster, Eisenreste und Glas der Kronleuchter, Fliesen der rituellen Waschräume und vor allem sauber ausgeräumte und dann mit Estrichschutt verfüllte Fundamentgräben ließen sich eindeutig der Moschee zuweisen.
Weitere Funde wie gusseiserne Ofenreste, Schlackegruben, Blechtassen, datierbare Industrieprodukte wie Abwasserrohre und Elektrozubehör stammen aus der Lagerzeit 1915-18, relativ wenige dagegen aus der NS- und wieder deutlich mehr aus der Sowjetzeit.
Sie belegen eine dreifache Geschichte dieses Militär-Ortes, von dem aus der ‚Heilige Krieg‘, der Dschihad, im Namen des Kaiserreiches beginnen sollte.
Dass nun – in der vierten Phase seiner Geschichte – am selben Ort diejenigen vorübergehend angesiedelt werden, die unter anderem vor den heutigen Ausprägungen des Dschihad fliehen, schließt einen welthistorischen Kreis, dessen Bedeutung noch nicht abzusehen ist.
siehe auch: R. Bernbeck / T. Dressler / M. Gussone / Th. Kersting / S. Pollock / U. Wiegmann, Archäologie der Moderne. Ausgrabungen im Gelände der Moschee und des „Halbmondlagers“ von 1915. Brandenburgische Denkmalpflege, Neue Folge, 2. Jg., 2016, Heft 1, im Druck.
digging deep, crossing far hat in Südasien begonnen
Die erste Station – 1st Encounter – machte das Projekt im Dezember 2015 in Bangalore, Indien und im Januar 2016 in Kochi, Indien. Der 2nd Encounter mit einer erweiterten Ausstellung und umfangreichem Begleitprogramm wurde im Mai 2016 in Karatschi, Pakistan, gezeigt.
Der Erste Weltkrieg 1914–1918
Der Erste Weltkrieg mit seinen 17 Millionen Toten gilt historisch als eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, durch die die ‚alte Ordnung‘ Europas zerstört wurde und deren Auswirkungen bis zum Ende des Kalten Kriegs politische und ideologische Konflikte mitbestimmen sollte. Doch am Ersten Weltkrieg lässt sich auch ablesen, wie stark globalisiert die Welt und ihre internationalen Machtgefüge bereits 1914 waren. In diesem Krieg wurden nicht nur enorme soziale Kräfte und ökonomische Ressourcen mobilisiert, sondern er war auch der erste wirklich weltweit tobende Krieg.
Der Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg hatte zur Folge, dass das gesamte Britische Weltreich in das europäische Kriegsgeschehen verwickelt wurde und Soldaten aus den britischen Kolonien neben kolonial-französischen Truppen, Australiern und Neuseeländern, Kanadiern und Südafrikanern kämpften. Die globale Dimension des Ersten Weltkriegs ist oft im Gesamtbild verloren gegangen, das den Krieg auf die Geschehen an der Westfront reduziert.
Südasien im Ersten Weltkrieg
Selbst in Südasien – wo circa 1,3 Millionen Soldaten und Arbeiter von den Briten für den Krieg rekrutiert wurden, von welchen wiederum über 70.000 fielen – ist über den Krieg und seine Folgen auch heute noch kaum mehr bekannt als ein allgemeines historisches Narrativ. Dies mag daran liegen, dass die Ereignisse des Ersten Weltkriegs rasch vom Zweiten Weltkrieg und dann von der Unabhängigkeitsbewegung und der Teilung Indiens überschattet wurden. Darüber hinaus hatten die ‚Sepoy‘ (Bezeichnung für indische Soldaten der britischen Armee) eine ambivalente, mitunter widersprüchliche gesellschaftliche Stellung.
Jüngere Publikationen von 2014 und 201, die sich mit der Rolle Südasiens im Ersten Weltkrieg befassen, markieren in diesem Hinblick einen Wendepunkt. Schon in der Dekade zuvor konnte David Omissi (Professor für Imperiale Geschichte an der University of Hull in Großbritannien) durch seine Beschäftigung mit einer chronologischen Sammlung von über 6.000 Feldbriefen neues Licht auf die (psychische) Verfassung der Sepoys werfen, wodurch sich präzise Aussagen über die politische Dimension kolonialer Abhängigkeit treffen ließen (David Omissi (Hg.), Indian Voices of the Great War. Soldiers‘ Letters 1914–18, 1999).
Die Briefe vermitteln den Eindruck, dass Südasiens maßgebliche Beteiligung am Ersten Weltkrieg nicht zuletzt von Hoffnungen auf zukünftige Autonomie und Selbstverwaltung motiviert war. Daran war nach Kriegsende nicht mehr zu denken. Ein weiterer Krieg war nötig, bevor Britisch-Indien schließlich 1947 in zwei unabhängige Nationalstaaten geteilt wurde: Indien und Pakistan.